Vor- und Nachteile digitaler Medien

Neue Medien als Chance, die zum Lesen führt?
Viele der liebgewonnenen Leseangebote und Ratschläge zur Leseförderung, die erfahrene Lehrer, Bibliothekare, Buchhändler etc. über die Jahrzehnte gesammelt haben, treten heute in Konkurrenz zu den neuen Medien, die nun schon gar nicht mehr so neu sind. Kinder, die heute in die Schule kommen, haben Eltern, die selbst schon mit den digitalen Medien aufgewachsen sind.

Einerseits gab es schon immer Schwarzmaler, die das Lesen bedroht sahen, erst durch den Rundfunk, dann das Fernsehen, später durch die ersten Hörkassetten, dann durch Hörbücher auf CD, schließlich durch die zahlreichen Kinderfilme, die ersten Spiele auf Spielekonsolen, dann auf dem PC. Nie ist das Lesen dadurch als Informationsquelle oder Freizeitbeschäftigung verschwunden. Im Gegenteil, es gibt heute mehr Angebote als früher und der Markt für Kinderbücher ist weitgehend stabil. Inwiefern ist die Situation mit den neuen Medien, insbesondere durch die Nutzung von Tablets und Handys also anders, bzw. ist sie überhaupt anders? Sollte man nicht ganz pragmatisch die Möglichkeiten nutzen, die Leselernapps bieten, ohne sich weitere Gedanken zu machen?

Andererseits lässt sich das Thema nicht umgehen, und Handys aus dem Leben selbst von Grundschulkindern komplett zu verbannen, ist nahezu aussichtslos. Auf der anderen Seite besteht allerdings eine sehr ernst zu nehmende Unsicherheit, wie sich der Gebrauch von digitalen Medien auf die Entwicklung der Kinder auswirkt.

Es gibt erstaunlich wenige wissenschaftliche Untersuchungen, die nachweisen, dass die Lernprozesse beim Lesen beeinträchtigt werden, wenn Kinder mit zu vielen Bildern zu schnell konfrontiert werden, zu oft das Auge und das Gehirn befeuert werden. Wie die Nutzung von Smartphones das Verhalten, das Gehirn, tatsächlich beeinflussen und auf welche Art, ist teilweise noch unerforscht.

Allerdings gibt es Untersuchungen, die sehr wohl den Zusammenhang zwischen Mediennutzung, abnehmender Aufmerksamkeitsspanne und z.B. Schlafstörungen nahelegen: https://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2017-05/digitale-medien-smartphone-kinder-gesundheitsrisiken-blikk-medien-studie

Vor allem von der Seite der Kinderärzte kommen sehr ernst zu nehmende Warnungen. Erst kürzlich forderte der Präsident des Berufsverbands öffentlichkeitswirksam „Kein Handy vor elf Jahren”. Begründung: Täglich auf die kleinen Bildschirme zu starren, habe katastrophale Folgen für die kindliche Entwicklung.

Eine aktuelle Studie der pronova BKK stützt diese These: https://www.stern.de/gesundheit/kinderaerzte-besorgt--was-smartphones-und-tablets-mit-unseren-kindern-machen-9001552.html

Teilweise sind ja schon Kleinkinder daran gewöhnt, dass ihre Eltern das Smartphone bei jeder Gelegenheit nutzen und eine echte Konkurrenz bezüglich der elterlichen Aufmerksamkeit darstellen. Studien belegen: „Es gibt negative Auswirkungen sowohl bei der Internalisierung, also emotionale Auffälligkeiten, als auch bei der Externalisierung, also Aggressivität oder verminderte Aufmerksamkeit. Auch Auswirkungen auf den Schlaf sind zu beobachten. Ganz klar sind die körperlichen Folgen: Der BMI steigt schon bei Kleinkindern bei langem Medienkonsum an, langfristig ist die kognitive und sprachliche Entwicklung gehemmt.“ Allerdings reicht aktuell die Studienlage nicht aus, um klare Schlüsse zu ziehen. „Es fehlen Verlaufsstudien und eine genaue Altersdifferenzierung. Außerdem macht die Art der Mediennutzung einen großen Unterschied – konsumiert das Kind ein Hörbuch, einen Film oder ein Computerspiel? Wie begleiten die Eltern den Medienkonsum und kommt es zu einem körperlichen Ausgleich? Es wäre hilfreich, wenn Studien den Konsum genauer differenzieren würden“.
https://aerztezeitung.at/2020/oaz-artikel/medizin/kindliche-entwicklung-und-smartphones-vom-smartphone-zum-smart-baby/

Was bedeutet das also? Man sollte sich nicht verrückt machen lassen, aber der Einsatz von Medien für die Förderung des Lesens sollte nur dann genutzt werden, wenn man ihn ganz bewusst und sehr dosiert und möglichst nicht zu früh einsetzt, begleitet und zeitlich begrenzt. In diesem Fall kann der pragmatische Umgang mit Lernapps für Kinder und Eltern eventuell auch eine gemeinsame Chance sein, um das Instrument Smartphone oder PC dort einzusetzen, wo es einen wirklichen Nutzen hat und nicht nur Zeitvertreib und Ablenkung darstellt. Gleichzeitig Lesen Lernen und den Umgang mit dem Smartphone als einem Instrument, das man gezielt, sinnvoll und zeitlich begrenzt einsetzt, das wäre ideal.

Wo und wann also Apps einsetzen?
Wenn man den Kindern bei den Hausaufgaben geholfen hat, mit ihnen gemeinsam gelesen hat, ihnen eigenen Lesestoff bereitgestellt und besorgt hat, dann ist eigentlich alles gut. Wenn man zusätzlich fördern möchte, dann gibt es in der Tat viele recht beeindruckende Lernapps, die helfen. Handy als reine Ablenkung und dann von der Lernapp unkontrolliert zu irgendwelchen Spielen und Filmen zu wechseln, sollte auf jeden Fall vermieden werden. Und man sollte sich als Elternteil selbst beobachten. Nutze ich das Handy selbst praktisch oder einfach automatisch als Ersatz für die Zigarette, als Lückenfüller, sobald einmal Leerlauf einsetzt? Ich sollte die Medienzeit des Kindes kontrollieren, aber wie sieht das bei mir selbst eigentlich aus. Ich rege mein Kind dazu an, mit seiner App lesen zu lernen, aber tue ich das vielleicht nur, um es guten Gewissens ruhig zu stellen? Bin ich bereit, die App mit ihm gemeinsam zu nutzen?

Einige Grundsätze sollte man beherzigen: App-Zeit ist Familienzeit. Nutzen Sie die gemeinsame Zeit vor dem Bildschirm, um sich mit Ihren Kindern über die Apps oder Spiele auszutauschen. Das Gesehene, Gehörte, Gelesene oder Gelernte wird viel besser verarbeitet, wenn sich die Kinder darüber austauschen können und verschiedene Emotionen damit verbinden. Fragen Sie schon während der App-Nutzung nach, wie die Kinder die App finden oder ob sie schon einmal etwas Ähnliches erlebt haben, wenn es sich z. B. um eine spannende, lustige oder traurige Geschichte innerhalb der App handelt. Lassen Sie Kinder zu Erzählern werden beim Betrachten einer Wimmel-App oder veranstalten Sie einen kleinen Wettstreit innerhalb einer Lern-App und wechseln Sie sich mit den Aufgaben ab.

Die Zeit nach der App-Nutzung eignet sich hervorragend, um sich mit den Themen weiter zu beschäftigen und die Kinder zu tollen Anschlussaktionen zu motivieren. Sie haben gerade eine App zum Thema Natur angesehen? Vielleicht hat Ihr Kind jetzt Lust, eine Blume oder ein Tier zu basteln oder ein Bild zu malen. Sie haben ein digitales Sound-Memory gespielt? In Ihrer Wohnung finden sich bestimmt viele Gegenstände, mit denen sie selbst Geräusche machen und erraten können. Sie haben gerade neue Wörter geübt? Dann können sie doch eine Postkarte an Verwandte oder Freunde schreiben.

Schlusswort
Die Autorin, Journalistin und Bloggerin Andrea Zschocher hatte den Auftrag, für das Deutsche Jugendinstitut, einige Lernapps zu beschreiben und hat als Fazit gezogen: „Ich muss gestehen, ich kann Lesen Lernen Apps wenig abgewinnen. Mir ist klar, dass sie Kinder dabei unterstützen können, das Lesen zu erlernen. Aber das kann ein Buch auch. Natürlich sollten Kinder mit verschiedenen Medien in Kontakt kommen und selbstverständlich nutzen auch meine Kinder Apps für alles Mögliche. Aber sehr dosiert. Ich komme mir fast ein bisschen altmodisch vor, wenn ich hier zum guten alten Buch und dem gemeinsamen Lesen rate. Aber Lesen ist eben neben dem Lernen auch ganz viel Gefühl und Lust darauf, neue Welten zu entdecken. Die Belohnung sind nicht irgendwelche Punkte oder Ausmalbilder, sondern, dass man eine neue Geschichte, eine neue Sichtweise kennen gelernt hat.“
https://www.stiftunglesen.de/loslesen/unsere-highlights/lesen-mit-app

Wir müssen sagen, dass wir diesem etwas ernüchternden Fazit erstmal vollständig zugestimmt hätten, wenn es nicht doch bei der Recherche immer wieder Momente gegeben hätte, wo uns entweder die Vielfalt der didaktischen Möglichkeiten (Amira) , die liebevolle Gestaltung (Tafiti) oder die Bandbreite der Inhalte, oder schlicht die einfache Verfügbarkeit, Lesestoff dabei haben zu können ganz ohne eine Bibliothek mitschleppen zu müssen, davon überzeugt hätten, dass diese Applikationen durchaus Sinn machen können.

Das große Aber besteht dabei allerdings darin, und das darf man niemals unter den Tisch fallen lassen, dass wir definitiv nicht wissen, welche Auswirkungen ein zu früher und zu intensiver Gebrauch digitaler Medien auf die kindliche Entwicklung hat. Das Bewusstsein dafür muss immer dabei sein, wenn man den Kindern solche Angebote macht.

Also noch einmal: Man kann einige Lernapps guten Gewissens einsetzen, aber wirklich nur wenn man die Kinder dabei begleitet und den Einsatz wohl dosiert gestaltet.